Freitag, 19. Oktober 2018

gevaarlijk terrein

Freitag, 19. Oktober: Arnhem
Donnerstag, 18. Oktober: Tolkamer - Arnhem

Vor dem "B&B Bordeaux" in Arnhem sitzen zwei Frauen mit Kopftuch und ein jüngerer Mann im T-Sirt mit dem Smartphone in der Hand. Ich weiss nicht genau, wen ich ansprechen soll, um nach einem Zimmer zu fragen. Die ältere der beiden Frauen greift sofort zum Telefon und erkundigt sich bei irgendwem, ob noch eins frei sei. Dann beauftragt sie ihren Sohn, mir das Zimmer zu zeigen. Es ist sehr schön eingerichtet.


Das Frühstück heute Morgen im Café Sofra serviert die sehr freundliche Frau von gestern, es läuft orientalische Musik, der Moderator aber spricht holländisch. Es gibt unter anderem einen sehr leckeren warmen Tomatenbrei mit Ei, Fetakäse und Knoblauch darin, dazu türkisches Fladenbrot. An der Wand steht "Istanbul" und unter dem durchsichtigen Plastiküberzug auf dem Tisch liegt eine Landkarte mit allen türkischen Provinzen drauf. Das Lokal füllt sich allmählich mit muslimischen Frauen und ihren Kindern. Es wird nurmehr türkisch gesprochen.



Erst heute Morgen habe ich von meinem Zimmer aus auf der anderen Strassenseite die hebräische Inschrift am Ziegelgebäude bemerkt. Das einzige, was ich davon entziffern kann: "Jesaja LVI, vs 7b". Ich schaue im Internet nach und finde die Textstelle: "...denn mein Haus wird ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden." Das Haus ist eine Synagoge, wie ich später feststelle und gerade dahinter befindet sich die Eusebius-Kirche, eines der Wahrzeichen Arnheims, mit ihrem gläsernen Fahrstuhl im Kirchturm. Man fährt damit an den Kirchenglocken vorbei fast 90 Meter hinauf, von wo aus man einen prächtigen Blick auf die Stadt und die berühmte Rheinbrücke von Arnheim hat. Heute heisst sie John-Frost-Brücke, nach jenem britischen Kommandanten, der 1944 mit einer kleinen Truppe versuchte, die Brücke für die nachrückenden Alliierten gegen die deutsche Wehrmacht zu verteidigen, dabei in Gefangenschaft geriet, aber nach dem Krieg freikam.




Übrigens: Ich habe himmlisch geschlafen. Fast scheint es, als sei die Welt in Ordnung.
Heute mache ich noch kleine Besorgungen in der Stadt, wie zum Beispiel neue Socken kaufen - das zweite Paar hat bereits wieder ein Loch am grossen Zeh -  sowie eine Mütze (holländisch: muts) und Handschuhe. Für alle Fälle.

Donnerstag, 18. Oktober 2018

Tolkamer

Mittwoch, 17. Oktober: Kalkar - Tolkamer (NL)

Wenn doch im Wunderland nur alle Kinder so schlank und rank wären wie Kernie, das Maskottchen des Familienparks! Aber die meisten sind zu dick, genauso wie ihre Eltern. Kein Wunder, auf dem Areal gibt es überall Stände, wo man gratis Pommes, Süssgetränke und Eis holen kann. Und man sieht praktisch keinen Menschen mit leeren Händen herumspazieren. Alle haben sie entweder etwas zum Essen oder eine Cola in den Händen oder beides gleichzeitig oder dann starren sie auf ihr Handy, die Erwachsenen meist noch mit einer Zigarette im Mund.
Und es ist irgendwie seltsam: Obwohl im Moment eigentlich alles da ist, was das Herz begehrt, sieht niemand so richtig glücklich und zufrieden aus. Viele sitzen auf einer Bank und blicken eher müde oder gelangweilt vor sich hin. Klar, auf den Bahnen wird gelacht und geschrien, aber sobald diese anhalten, ist auch dieser Kick schon wieder vorbei. Irgendwie wirken alle ein bisschen passiv. Das blinde Konsumieren scheint doch nicht das zu bringen, was es verheisst. Die Gier nach Fun endet im Überdruss. Nur Kernie versprüht von morgens bis abends gute Laune.


Als ich am Morgen losgehe, befällt mich die ambivalente Simmung, wie ich sie schon an vielen Tagen erlebt habe: Auf der einen Seite freue ich mich, dass ich weitergehen kann und neues erlebe, auf der andern Seite ist das Hotelzimmer und der ganze Aufenthaltsort für die letzten sechzehn Stunden mein vertrautes Zuhause geworden, das ich nur ungern verlasse. Und da ist auch stets die Ungewissheit: Wie wird der Weg heute sein? Wo werde ich wohl heute Abend landen? Werde ich wieder eine gute Unterkunft finden und wohlwollende Menschen treffen?


Nach dem Mittag überschreite ich nördlich von Emmerich die holländische Grenze. Markiert ist sie kaum, man bemerkt es höchstens an den veränderten Strassenschildern und Aufschriften. Ziemlich genau bei der Grenze fangen mich, wie vorher telefonisch vereinbart, Jupp und Brigitte ab, die ich vorgestern bei "Birthes Büdle" kennengelernt habe. Während wir in Tolkamer zusammen etwas trinken und auf den Rhein hinaus schauen, erzählt Jupp von seinen Jugendjahren an der Grenze, vom Bauernhof, auf dem er geboren wurde und der später dem Rheinkanal weichen musste, und vom Munitionsschiff, das führerlos den Rhein hinunter trieb.


Am Abend geniesse ich bei einem Bier den Sonnenuntergang an der Rheinpromenade. Der letzte Abschnitt meiner Wanderung hat begonnen.


Dienstag, 16. Oktober 2018

Kernies Wunderland

Dienstag, 16. Oktober: Xanten - Wunderland Kalkar

Den Tipp habe ich von Jupp erhalten. Der Freizeitpark Wunderland Kalkar ist ein stillgelegtes beziehungsweise nie in Betrieb genommenes Kernkraftwerk am Rhein, das Mitte der Achziger Jahre fertiggestellt wurde. Bei den Anti-KKW-Demonstrationen mit über 40'000 Teilnehmern kam es 1979 zum grössten Polizeiaufgebot in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bereits 1974 hatten Tausende überwiegend holländische Demonstranten gegen den Bau protestiert. Politische und auch Sicherheitsbedenken (Reaktorunfall in Harrisburg) führten schliesslich dazu, dass das Werk nie ans Netz ging und wegen der hohen Baukosten als die grösste Investitionsruine Deutschlands gilt.


Anfang der Neunziger Jahre wurde das Gebäude per Zeitungsannonce zum Verkauf angeboten und  der niederländische Investor Hennie van der Most soll für den Erwerb  - so erzählen es zumindest die Leute hier - gerade mal einen Euro (!) bezahlt haben. Er wandelte das Gelände in einen riesigen Freizeitpark um, zu dem auch mehrere Hotels gehören, die für Kongresse gedacht sind. So wie gerade jetzt, wo ein Kongress der deutschen Bundeswehr über Flugsicherheit stattfindet. Beim Abendessen sitze ich zufällig an einem Tisch mit lauter ranghohen Offizieren und Instruktoren. Sie wollen wissen, was mich als Schweizer alleine an diesen Ort treibt.








Von meinem "all-inclusive-Zimmer" aus habe ich den schönsten Blick auf den ehemaligen Kühlturm, nachdem ich mir vorher in der Beachbar denWeg für die morgige Etappe zurechtgelegt habe.






Birthes Büdle

Montag, 15. Oktober: Rheinberg - Xanten

Heute vor zwei Monaten bin ich losgegangen. Xanten, der Name dieser letzten deutschen Stadt vor der holländischen Grenze existierte für mich bis jetzt nur auf der Karte. Jetzt steht vor dem Fenster meines Zimmers ein Nussbaum mit goldgelben Blättern und dahinter leuchten die Wolken am Abendhimmel.
Die Wege der heutigen Etappe führen mich zwar nicht ganz nahe am Rhein entlang, dafür sind es teilweise begraste Deichwege, von wo aus man einen weiten Blick über die Landschaft hat. Schafe und Kühe grasen auf den endlosen Weiden, irgendwo in der Ferne sieht man lediglich die Führerkabine eines vorbeifahrenden Lastschiffes, als ob sie das Land durchpflügen würde. Menschen sind nur mehr wenige unterwegs.




An einer Stelle finden sich alte Brückenreste aus Ziegelsteinen, die aussehen wie ein römisches Viadukt. Ich lese aber, dass dies die ehemalige Eisenbahnbrücke von Wesel gewesen ist, die im Mai 1945 von den deutschen Truppen gesprengt worden ist, um den Vormarsch der Alliirten zu stoppen.


Irgendwo neben einem landwirtschaftlichen Gehöft treffe ich auf ein kleines Haus, vor dem ein paar Tische mit Bänken und Stühlen und einem roten Sonnenschirm aufgestellt sind. "Birthes Büdle" steht über dem Fenster im Erdgeschoss. An einem Brett vor dem Fenster sind zwei Fotos angeheftet: Auf dem einen ist der Leuchtturm auf dem Oberalppass abgebildet, auf dem andern zwei junge Frauen, die einen Einkaufswagen mit ihrem Reisegebäck drin vor sich herschieben.
Die freundliche Wirtin reicht mir eine Apfelschorle und erzählt, dass in letzter Zeit schon einige Schweizer an diesem völlig abgelegenen und unscheinbaren Ort vorbei gekommen sind; unter anderem eben auch die zwei Schweizerinnen auf dem Bild.
Dem älteren Paar am Nebentisch, das dem Gespräch aufmerksam zugehört hat, erkläre ich dann, dass der Leuchtturm auf dem Oberalppass eine Kopie desjenigen an der Rheinmündung in Holland sei. Der Mann will es kaum glauben, dass ich zu Fuss bis hierher gekommen sei. Warum gerade der Rhein? Ich hätte eine besondere Beziehung zu diesem Fluss, ich sei am obersten Teil des Rheins geboren und aufgewachsen. Worauf er erwidert, und er sei im letzten Dorf vor der holländischen Grenze geboren. "In Bimmen. Da kommen Sie vorbei, wenn Sie über die Grenze gehen."
Ich glaube, Jupp und ich sind in dem Moment beide ein bisschen gerührt über diese Gemeinsamkeit, die uns mit dem Rhein verbindet. Wir verabschieden uns herzlich und mit den besten Wünschen.







Montag, 15. Oktober 2018

Hazel

Sonntag, 14. Oktober: Duisburg - Rheinberg

Der Weg aus der Stadt hinaus ist einfacher zu finden, die Strassen sind menschenleer und autofrei und es ist noch nicht so heiss. Ich komme vorbei am 'Innenhafen', jenem Viertel Duisburgs, das Ende der Neunziger Jahren von einem brachliegenden Industriegebiet zu einem attraktiven Stadtteil umgebaut wurde, wo sich heute Wohnen, Arbeiten, Kultur und Freizeit ideal ergänzen. Das Kunstmuseum Küppersmühle ist ein ehemaliger Industriebau, der übrigens von den Architekten Herzog und de Meuron umgestaltet wurde.



Nach den Brücken über die Ruhr und den Rhein geht es wieder einmal auf ungepflasterten Wegen einfach am Rhein entlang. Was für eine Wohltat für Knie und Hüften!

Aber schon bald führt der Weg wieder vom Rhein weg zum Weiler Binsheim mit schönen landwirtschaftlichen Gebäuden und Innenhöfen links und rechts der Strasse. Bei einer solchen Einfahrt steht ein kleiner Tisch mit Baumnusssäcken, einer Waage und einem einem grossen Nussknacker darauf. Ein dunkelhäutiges, etwa 15 jähriges Mädchen lehnt etwas gelangweilt daneben am Gitterzaun.
"Hallo, ich würde zwar gerne ein paar Nüsse kaufen, aber im Gehen kann ich sie schlecht öffnen."
Das Mädchen sagt nichts, schaut mich etwas schüchtern an und weiss offensichtlich nicht so genau was tun. Sie guckt in den Hofeingang, wo ein Mann daran ist Kastanien zu rösten. Er kommt her und ich erkläre ihm mein 'Problem'.  - "Vielleicht kann sie mir einige Nüsse knacken und hier in diesen Beutel geben."
Während das Mädchen mit dem Öffnen der Nüsse beschäftigt ist, erzähle ich meine Geschichte (und auch, dass ich Lehrer war) und der Mann erzählt, wie er hier am Rhein in diesem ehemaligen Gehöft als Bauernjunge aufgewachsen ist. Und jetzt wohne er wieder hier mit seiner Frau, sie sei die Mutter des Mädchens. Als er wieder nach seinen Kastanien schauen gehen muss, frage ich das Mädchen, ob sie deutsch spreche. Sie nickt. "Und woher kommst du?"- "Aus Afrika." - "Und woher genau?" - "Aus Uganda." - "Und seit wann bist du hier?" - "Seit einem Jahr" - "Dann gehst du noch in den Deutschkurs?" - "Nein, ich gehe in den normalen Unterricht", sagt sie und blickt mich ziemlich stolz an. "Was?! Das find ich aber echt toll."
Nun bringt ihr Stiefvater noch einige heisse Kastanien und auch die Mutter ist aus dem Haus gekommen.
"Darf ich fragen, wie du heisst, ich schreibe nämlich einen Blog für meine Leute zuhause." - "Hazel."
Als mich der Mann nach der Blogadressse fragt, sehe ich, wie Hazel schon das Smartphone zur Hand hat und notiert.
"Und möchten Sie auch eine Foto machen?" fragt mich der Vater. "Nur wenn sie will", sage ich, doch schon steht das Mädchen lachend in Selfie-Pose neben mir.
Ich bekomme meine geknackten Nüsse, verabschiede mich und gehe weiter.
Was für eine schöne Begegnung - viel Glück, Hazel!