Dienstag, 6. November 2018

Der nächste Schritt...

...kommt bestimmt.

Nach einigen Tagen in Rotterdam bin ich nun wieder zurück in der Schweiz.
Dieser Blog ist hiermit beendet.
Ich danke allen, die meinen Gang entlang des Rheins mitverfolgt haben.

Luzern, 6. November 2018
Georges Reber







Montag, 29. Oktober 2018

Schritte im Sand

Montag, 29. Oktober: Hoek van Holland - Rotterdam
Sonntag, 28. Oktober: Vlaardingen - Hoek van Holland

Heute Morgen, als der Bus losfährt in Hoek, wird mir nach einigen hundert Metern übel. Die Kurven, die schlechten Gerüche, die vorbeirasende Landschaft... ich bin es nicht mehr gewohnt. Im Bus sind etwa fünfzehn Jugendliche, fast alle haben Stöpsel in den Ohren, ihr Smartphone in der Hand, einige haben die Augen geschlossen, andere schauen ins Leere. Montagmorgen. Ein paar tippen auf dem Screen herum, nur zwei Mädchen schwatzen miteinander. Aus dem Fenster guckt niemand, wozu auch. Die Landschaft mit den Deichen, Kanälen, Bäumen, den Kühen, Schafen, Enten und Möwen fliegt vorbei, sie ist hier drin nicht wichtig, es geht nur darum, die Distanz möglichst schnell hinter sich zu bringen. In Schiedam steigen alle um auf die Metro nach Rotterdam. Jetzt fährt man unter dem Boden, es rumpelt, Lichter flackern an den Tunnelwänden. Unterwelt.
Dann gehe ich die Treppe hoch ans Tageslicht. Man sieht sie von weitem, die Erasmusbrücke.


Der Himmel ist strahlend blau, der halbe Mond hängt noch am Himmel und es ist frisch, als ich gestern Sonntagmorgen in Vaardingen aus dem Hotel trete. Vorfreude und Erwartung sind gross, aber das macht den verbleibenden Weg nicht kürzer. Viele Spaziergänger und Radfahrer sind unterwegs. Die Frachtschiffe gleiten lautlos dahin und die Bäume rauschen im Wind. Nach Maassluis kommt mir ein Mann mit Rucksack entgegen. Er spricht mich auf holländisch an. Ich zucke die Schultern. "I'm on the way to the Hoek, this is the end of my trip." René wohnt einige Kilometer von hier und trainiert für den Jakobsweg. "Enjoy your day", sagt er am Schluss. "Thank you, enjoy your life." Lachend geben wir uns die Hand.



Den Leuchtturm am Hoek van Holland sieht man von weitem. Er steht ein paar Kilometer vom Meer entfernt umgeben von Wohnhäusern.



Der Uferweg führt weiter, vorbei am Denkmal für die im Jahr 1938 geretteten jüdischen Kinder aus allen Teilen Europas, die hier von den Holländern auf Schiffe nach England in Sicherheit gebracht wurden. Mehr als 10'000 waren es. Dann gehts hinaus über die Dünen zum breiten Strand, wo sich die vielen Sonntagsausflügler in der Sonne tummeln. Der Wind bläst eisig, das aufgewühlte Meer schlägt hohe Wellen. Ich gehe einige Zeit am Strand entlang, bis ich schliesslich ganz zum Wasser hin trete. Das wars nun also; das ist das Ende dieser Geschichte, denke ich und spüre - nichts Besonderes. Keinen Triumph, keine Euphorie, keine spezielle Befriedigung. Es ist einfach, was es ist: Wasser, Sand, Muscheln, salziger Meeresgeruch, den ich mag, Möwen, spazierende Menschen, alles sehr schön, aber sonst? Ich muss es mir immer wieder sagen. Hey, that's it! Das ist der lang imaginierte Moment! Ich weiss nicht, was tun. Schliesslich frage ich ein flanierendes Paar, ob sie vielleicht ein Foto von mir machen könnten. Aber klar doch. Sie fragen nicht warum. Nachher hole ich ein kleines, leeres Fläschchen aus dem Rucksack, das ich extra dafür mitgebracht habe, und fülle es mit Sand und Meerwasser. Dann gehe ich zu einer Strandbar und trinke ein Bier. Rund herum ist alles so gewöhnlich, die Leute geniessen die Sonnenstrahlen, rauchen und plaudern und aus den Lautsprecherboxen tönt "The Sounds of Silence". Alles wie sonst. Als die Sonne sich senkt und es noch kühler wird, gehe ich die zwei Kilometer zurück nach Hoek zu meiner gebuchten Unterkunft.







Das wars. - Wars das nun? Man sieht nichts, hört nichts mehr, spürt nichts. Das Vergangene ist wie weggeblasen. Ein Wimpernschlag.
War da was?
Vielleicht ein Lied, das schläft.

Rhein-Gang

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Rhein-Gong
Rhein-Gung
Reinigung
Rhein jung
Rhein alt

Rhein-Gang
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Rhein-gang
ying
und
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sing
und
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Rhein-Song

Rhein-Gang

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Lehrgang
Übergang

Rhein-Gang

Rhein-Weg
Rhein weg
alles weg
alles Weg





Samstag, 27. Oktober 2018

Der falsche Damm

Samstag, 27. Oktober: Kinderdijk - Vlaardingen
Freitag, 26. Oktober: Dordrecht - Kinderdijk

'Letzte Station vor Rotterdam' - schnell gesagt. Den richtigen Weg durch die Deichlandschaft zu finden ist viel vertrackter als gedacht. Zudem hat der Regen eingesetzt, der Wind bläst von der Seite und es ist kühl geworden.



Dabei hat der Tag so freundlich angefangen. Mein kleiner Loft in Dordrecht mit dem grossen Fenster liegt ebenerdig zur Strasse, sodass die Leute für einmal mir zuschauen können, wie ich meine Brote streiche und meine Schuhe schnüre. Das Frühstück hat mir Madelone, die Besitzerin des B&Bs, mit einem lieben Gruss vorher bereitgestellt.



Der graue Himmel macht die Orientierung noch schwieriger. Plötzlich weisst du nicht mehr, gehst du nach Norden oder nach Süden. Der Wasserlauf in den Kanälen zeigt es dir auch nicht an, zumal diese immer rechtwinklig zueinander liegen. Weit und breit ist nichts, woran du dich halten könntest. Nachdem ich etwa drei Kilometer im nassen Gras einen Kanal entlang gegangen bin, frage ich einen Fischer unter seinem Regenzelt, ob ich auf diesem Damm richtig sei. Oh, nein, das geht genau in die entgegengesetzte Richtung, nur immer geradeaus und dann über die kleine, weisse Brücke, it's easy to find, sagt er aufmunternd. Ziemlich durchnässt und durchfroren komme ich in Kinderdijk bei den 19 alten Windmühlen an. Was für ein Anblick! Die Mühlen aus dem 18. Jahrhundert waren (von Kindern?) erbaut worden, um das überschüssige Wasser aus den Kanälen zu einem Sammelkanal zu pumpen, damit das Polderland, das einige Meter unter dem Meeresspiegel liegt, überhaupt bewirtschaftet werden konnte.
Traf ich vorher kaum eine Menschenseele, so wimmelt es hier von kichernden und knipsenden japanischen Touristen.


Nachdem ich festgestellt habe, dass es heute keine Fähre nach Ridderkerk mehr gibt und ich auch weniger weit gekommen bin als geplant, suche ich mir eine Unterkunft hier in der Nähe. Zum Glück! Wenn ich weitergegangen wäre, hätte ich das Spektakel beim Sonnenaufgang verpasst.
Beim Check-Out an der Rezeption merke ich, dass ich statt des Smartphones die TV-Fernbedienung in der Hand halte.


Rotterdam - magisches Wort, Chiffre für so vieles in den vergangenen Monaten! Plötzlich sind sie vor mir, die riesigen Häuser und Brücken und Schiffe. Es regnet, dunkel hängen die Wolken über der Stadt, das Wasser ist graubraun und trübe. Und selbst wird man immer unbedeutender angesichts dieser Dimensionen.



Im Café neben der Erasmusbrücke wünscht mir der sympathische junge Kellner a nice day. "I will have it", entgegne ich lachend. - "And why that?". Als ich ihm sage, wie ich hierhergekommen bin, meint er anerkennend: "Oh, exciting!".
Dann gehe ich den Schiffshäfen und Hafenkränen und Lagerhäusern und Werften und Industriegebäuden entlang weiter Richtung Hoek van Holland, der Mündung des Rheins, der hier jetzt Nieuwe Waterweg heisst, des Ziels meines Gangs.



Heute übernachte ich in Vlaardingen in einem Hotel für Schiffsleute, Lastwagenfahrer und Handwerker - für einen Fusswerker also nicht unpassend.
Von da weg sind es noch 25 Kilometer.




Donnerstag, 25. Oktober 2018

Herbstblätter

Donnerstag, 25. Oktober: Gorinchem - Dordrecht

Als ich mein wunderbares Zuhause der letzten beiden Tage unten am Kanal verlasse, spüre ich es wieder: den Drang weiterzugehen, die  leise Wehmut sowie die Bangigkeit vor dem Ungewissen. Es nieselt leicht, der Himmel ist grau. Auf der Fähre über die Nieuwe Merwede bin ich der einzige Fahrgast. Die Schiffsführerin hat rot lackierte Fingernägel. Als ich das Schiff verlasse, fehlt mir einen Moment lang die Orientierung. Wie und wo geht es weiter? Dann finde ich den Dammweg: Rechts erstrecken sich die Weiden mit den grasenden Kühen und dahinter treiben die Lastkähne wie Rossschnecken langsam auf dem Wasser dahin. Links liegen kleine Seen mit weissen Schwänen darauf. Der Weg hört plötzlich auf, Weitergehen auf der Wiese des Naturparks "op eigen risico"; ich gehe weiter. Der Herbstwind, das Laub am Boden, das Gewölk am Himmel erinnern mich an die Zeit von früher, als wir, sechs Freunde aus dem Gymnasium, zusammen eine Woche in der Hütte in den Bündner Bergen verbrachten. Wir hatten Parzival, Siddharta und Faust gelesen und fragten uns, welche Erwartungen wir selbst an das Leben haben. Wir spielten Gitarre und diskutierten, ob unser Leben wohl gelingen werde. Wir spazierten mit hochgeschlagenen Jackenkragen im kühlen Herbstwind, der die gelben Birkenblätter durch die Luft wirbelte, schauten auf die Lichter der Dörfer im Tal unten und schwiegen über unsere Sehnsüchte.
Die Stimmung jetzt ist genau gleich; der Weg durch das Weidengras könnte von mir aus immer weitergehen.


Aber irgend einmal komme ich bei der Fähre an, die mich hinüber nach Dordrecht bringt. Dann gehts noch sieben Kilometer bis in die Stadt hinein und zu meiner neuen Unterkunft.
Dordrecht - Letzte Station vor Rotterdam.


Mittwoch, 24. Oktober 2018

Historisch

Mittwoch, 24. Oktober: Gorinchem

Die Innenstadt ist sehr schmuck mit ihren alten Häusern und deren hohen Wohnzimmerfenstern, mit der Windmühle und dem Kanal, an dem die schweren Holzboote vertäut sind. Nachdem ich heute Morgen meinen Espresso getrunken habe, schlendere ich mehr oder weniger ziellos durch die Gassen und plötzlich frage ich mich, wonach ich eigentlich Ausschau halte: Ich sehe Statuen von irgendwelchen Königinnen oder Eroberern aus früheren Jahrhunderten, verspielte Springbrunnen, Gedenkinschriften für gefallene Soldaten, alte Kanonen, Rüstungen, riesige Anker mit Blumen geschmückt, Skulpturen geschenkt von Partnerstädten, Festungsanlagen, geziegelte Kirchen, pittoreske Häuserfassaden, auf denen die Daten der letzten Überflutungen eingraviert sind, usw. Hinter all diesen Dingen stecken Geschichten, die ich nachlesen oder mir erklären lassen könnte. Irgendwie reicht es mir jedoch, einfach wahrzunehmen, dass es das alles gibt.




Solche Orte werden übrigens oft "historisch" genannt. Und was ist mit den andern, die nicht mit diesem Attribut versehen sind? Heute ging ich aus dem Stadtkern in die "Oststadt" hinaus (weil ich etwas besorgen musste) und dann wurde schnell klar, warum dieses Etikett hier nicht passt. Nämlich weil dieser Stadtteil nicht nur geschichts-, sondern auch gesichtslos ist, will heissen, solche Stadtteile mit funktionalen Wohnsiedlungen und mitten drin einem trostlosem Einkaufszentrum wurden irgendwann gebaut, können irgendwo stehen; es gibt sie in jedem Land, sie gleichen sich allesamt. Und entsprechend blicken auch die Leute drein. Der Buchtitel "Die Erotik der Tapete", wie es Ludwig Hasler frei nach Oscar Wilde nannte, kommt mir in den Sinn: Schau dir die Tapete der Leute beziehungsweise ihre Umgebung an, dann brauchst du dich über ihren Gesichtsausdruck nicht zu wundern.


Der tiefe Wassserstand des Rheins berührt mich zuweilen seltsam. Es ist ein erbärmlicher Anblick und hat etwas Hilfloses, wenn am Ufer die Schiffe auf die Seite gekippt oder die Hausboote schief auf ihren Schwimmkörpern halb im Trockenen liegen. (Klar, solche Bilder sieht man bei der Ebbe auch, aber es bleibt immer der Trost durch das Versprechen der Flut.) Die Schiffsstege führen meistens steil hinunter bis zum Einstieg in die Exkursionsboote, wenn diese überhaupt noch in Betrieb sind. Und die Motorschrauben der fahrenden Schiffe wirbeln viel Dreck vom Boden auf, damit sie überhaupt vorwärts kommen. Es ist eigenartig, wenn das Element, auf welches alle diese Fahrzeuge und Geräte angewiesen sind, von dem sie alle abhängen und ohne das sie eigentlich nutzlos werden, einfach wegzubleiben droht.
Wasser ist Leben, sagt man. Wir brauchen Wasser um zu leben, als Lebewesen bestehen wir grossmehrheitlich aus Wasser und wir sind auch im täglichen Wirtschaften davon abhängig.
Wasser hat keine eigene Form, es fliesst überall hin, wo es will, erst ein Gefäss gibt ihm die Richtung. Darin gleicht es dem Leben: Auch dieses hat keine eigene Form, es ist nicht fassbar, erscheint nur durch ein Lebewesen. Wasser ist Leben, also auch symbolisch gesehen.
Die Vitaliät geht verloren, wenn das Wasser fehlt, wörtlich wie symbolisch.






Dienstag, 23. Oktober 2018

Wind

Dienstag, 23. Oktober: Tricht - Gorinchem

Heute kommt während des Gehens erstmals ein neues Element ins Spiel: der Wind. Das allein ginge ja noch, aber er bläst von vorne. So, als wollte er mich daran hindern, mein Ziel allzu früh zu erreichen. Immer wieder muss ich dagegen ankämpfen und komme selten in den Rhythmus der vergangenen Wochen, in welchem das Gehen so selbstverständlich geworden war, dass ich meinen Beobachtungen und Gedanken nachhängen konnte und es zwischendurch geradezu vergass.
Auch spüre ich, wie meine Ungeduld wächst.


Es ist schon seltsam, wenn du auf dem Dammweg gehst und der Kanal rechts davon höher liegt als die Ebene links mit den Häusern und Strassen.


Heute Nacht schlafe ich in der Koje neben der Mühle.