Donnerstag, 25. Oktober 2018

Herbstblätter

Donnerstag, 25. Oktober: Gorinchem - Dordrecht

Als ich mein wunderbares Zuhause der letzten beiden Tage unten am Kanal verlasse, spüre ich es wieder: den Drang weiterzugehen, die  leise Wehmut sowie die Bangigkeit vor dem Ungewissen. Es nieselt leicht, der Himmel ist grau. Auf der Fähre über die Nieuwe Merwede bin ich der einzige Fahrgast. Die Schiffsführerin hat rot lackierte Fingernägel. Als ich das Schiff verlasse, fehlt mir einen Moment lang die Orientierung. Wie und wo geht es weiter? Dann finde ich den Dammweg: Rechts erstrecken sich die Weiden mit den grasenden Kühen und dahinter treiben die Lastkähne wie Rossschnecken langsam auf dem Wasser dahin. Links liegen kleine Seen mit weissen Schwänen darauf. Der Weg hört plötzlich auf, Weitergehen auf der Wiese des Naturparks "op eigen risico"; ich gehe weiter. Der Herbstwind, das Laub am Boden, das Gewölk am Himmel erinnern mich an die Zeit von früher, als wir, sechs Freunde aus dem Gymnasium, zusammen eine Woche in der Hütte in den Bündner Bergen verbrachten. Wir hatten Parzival, Siddharta und Faust gelesen und fragten uns, welche Erwartungen wir selbst an das Leben haben. Wir spielten Gitarre und diskutierten, ob unser Leben wohl gelingen werde. Wir spazierten mit hochgeschlagenen Jackenkragen im kühlen Herbstwind, der die gelben Birkenblätter durch die Luft wirbelte, schauten auf die Lichter der Dörfer im Tal unten und schwiegen über unsere Sehnsüchte.
Die Stimmung jetzt ist genau gleich; der Weg durch das Weidengras könnte von mir aus immer weitergehen.


Aber irgend einmal komme ich bei der Fähre an, die mich hinüber nach Dordrecht bringt. Dann gehts noch sieben Kilometer bis in die Stadt hinein und zu meiner neuen Unterkunft.
Dordrecht - Letzte Station vor Rotterdam.


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