Freitag, 5. Oktober 2018

Geysir

Freitag, 5. Oktober: Andernach - Remagen
Donnerstag, 4. Oktober: Koblenz - Andernach

Die kleine Fähre bringt mich am Morgen in Koblenz über die Mosel wieder an den Rhein zurück. Auf dem Weg begegne ich nur wenigen Menschen, und wenn, dann meistens solchen, die ihren Hund spazieren führen. Weit vor mir geht eine einzelne Person. Sie hat einen dünnen Stecken in der Hand, mit dem sie ab und zu auf die Büsche einschlägt. Als ich sie eingeholt habe, bemerke ich, dass es eine Frau mittleren Alters ist, und frage sie, wo denn ihr Hund sei. Ich habe keinen Hund, sagt sie lachend, wie kommen Sie denn darauf? - Selten treffe ich einzelne Menschen, die einfach so zu Fuss unterwegs sind, erwidere ich. - Doch, ich mache gerne lange Fussmärsche. Aber es stimmt, gerade in ländlichen Gegenden werde sie oft seltsam angeguckt, wenn sie alleine unterwegs sei, vor allem in letzter Zeit, weil sie auch noch dunkelhäutig sei.
Wir kommen ins Gespräch, reden über das Gehen, lachen über die Radfahrer, die sogar zu zweit auf Tandems vorbeiradeln - wie auf einer Galeere. Nancy erzählt, wie sie momentan am Überlegen sei, welche Art von Job sie als nächstes annehmen solle. Sie promotet und vertreibt pharmazeutische Produkte, was ihr derzeit immer unheimlicher und verlogener erscheine und sie komme sich von ihren Arbeitgebern auch immer mehr ausgenutzt vor. Sie wisse nicht, wie sich in dieser unangenehmen Situation entscheiden solle, vielleicht ergebe sich eine Idee beim beim Gehen. -
Ich habe irgendwo gelesen, dass bei jedem Schritt das Zwerchfell erschüttert werde -  gleich wie beim Lachen oder beim Schluchzen oder beim Husten. So können die Gedanken nicht erstarren, bleiben immer in Bewegung. Für die alten Griechen übrigens sei das Zwerchfell der Sitz der Seele gewesen. Das erzähle ich ihr (auch auf die Gefahr hin, als Oberlehrer da zu stehn), bevor wir uns nach etwa einer Stunde gemeinsamen Weges voneinander verabschieden.




Ein paar Kilometer weiter komme ich an einem jüngeren Mann vorbei, der an einer Barriere zum Rhein hin lehnt, neben sich ein Fahrrad mit einem Kinderanhänger. "Na, wohin solls denn gehen?" ruft er mir zu. "Heute nach Andernach und morgen dann weiter", gebe ich zurück. "Und wie weit denn überhaupt?" - "Bis zur Rheinmündung." Er guckt erstaunt und beginnt mich auszufragen. Wo ich jeweils übernachte, will er wissen, und was ich so dafür zahle. Und plötzlich sehe ich, dass der Anhänger vollgestopft ist mit Gepäck. "Und Sie, wo übernachten Sie?" - "Im Schlafsack." "Und bei schlechem Wetter?" - "Na, unter Brücken oder so." In der Bundeswehr, da hätten sie bessere Schlafsäcke gehabt, solche, die bis zur Hüfte völlig wasserdicht gewesen seien, damit man darin auch Bäche überqueren konnte. Die kriege man heute nirgends mehr. - Und wohin er unterwegs sei? - "Ich komme von hier."
Beim Abschied wünscht mir Sascha viel Glück und alles Gute und ich ihm auch.


In Andernach gibt es den grössten Kaltwasser-Geysir weltweit. Er funktioniert wie eine Mineralwasserflasche, die unter Druck steht und in der das Co2 entweichen möchte. Über dreissig Meter hoch schiesst alle zwei Stunden die Wasserfontäne aus dem Boden.


Und heute in Remagen stehe ich vor den Brückenpfeilern der ehemaligen Ludendorff-Brücke, die Hitler im März 1945 von seinen letzten übrig gebliebenen Flugzeugen aus bombardieren und zerstören lassen wollte, damit die alliierten Truppen nicht über den Rhein Richtung Ruhrgebiet vordringen konnten. Zu spät, sie waren schon auf der anderen Seite...







Mittwoch, 3. Oktober 2018

Einheit

Mittwoch, 3. Oktober: Koblenz
Dienstag, 2. Oktober: Rhens - Koblenz

"Wie bitte, alles zu Fuss?!"
Der Zahnarzt zieht den Mundschutz hinunter, als ich brummend nicke. Differenziertere Konversation liegt auf dem Patientenstuhl mit aufgesperrtem Mund ja gar nicht drin. Die Assistentin hat ihm soeben erzählt, wie ich hierher gekommen sei.
Die Knie halten, die Füsse machen prächtig mit, der Rücken trägt, nur meine Zähne, die eigentlich am wenigsten belastet werden, zeigen ihre Brüchigkeit.
Wie bereits vor sechs Wochen musste ich am Montagmorgen lange herumtelefonieren, bis ich in Koblenz einen Zahnarzttermin für den nächsten Tag erhielt.
Alle sind sehr nett und die Zahnarztgehilfin gibt mir sogar noch einige Tipps, wo ich unbedingt essen gehen solle.


Im Cafe Einstein sind alle Tische restlos besetzt, als ich heute Morgen durch die Strassen flaniere und einen Espresso trinken will. Gerapplt voll auch das nächste Cafe. Koblenz ist am Frühstücken - heute ist in Deutschland Feiertag, heute ist der Tag der Deutschen Einheit, die Wiedervereinigung vor 28 Jahren wird gefeiert.
Mehrere Migrantenverbände fordern in einem Appell anlässlich dieses Tages auch einen „Tag der deutschen Vielfalt“, lese ich in der "Welt". Bislang werde am 3. Oktober die Einheit nur aus einer „deutschdeutschen“ und „weißen“ Perspektive gefeiert. Es sollte auch einen Tag geben, an dem man die positiven Aspekte der Einwanderungsgesellschaft würdigt. Die „Bindestrichdeutschen“ auf beiden Seiten würden oft vergessen. - 
Bindestrichdeutsche - gibts einen ähnlichen Ausdruck nicht auch bei uns?



Später bringt mich die Seilbahn über den Rhein zur Festung Ehrenbreitstein, von wo aus man eine wunderschöne Aussicht auf die Stadt und die Umgebung hat und deren vielfältige Geschichte sich 5000 Jahre zurückverfolgen lässt. 
Selbst der junge Johann Wolfang Goethe war hier 1772 zu Besuch auf Einladung der Schriftstellerin Sophie von La Roche, die ihre Literatensalons in einem der  Gemächer auf Ehrenbreitstein veranstaltete. Goethe war nach der enttäuschten Liebe zu Charlotte Buff in Wetzlar von Frankfurt aus zu einer Wanderung an der Lahn und im Rheintal aufgebrochen. Angeblich verliebte er sich in Ehrenbreitstein wegen ihrer schönen, schwarzen Augen in Sophies 16-jährige Tochter Maximiliane, die jedoch bereits mit dem 20 Jahre älteren Peter Antonio Brentano verlobt war. Diese beiden Liebesenttäuschungen waren mit der Anlass für die Niederschrift seines Briefromans "Die Leiden des jungen Werther".








Montag, 1. Oktober 2018

Lore-Ley

Montag, 1. Oktober: Bad Salzig - Rehns

Wann nur lässt du mich endlich wieder raus, du enges und liebliches Rheintal?!
In den Wäldern auf den Hügeln oben droht man vor lauter Wegen - es gibt den Rheinburgenweg, den Zuweg, die Traumschleife, den Rundweg, den Jakobsweg usw. - das Ziel aus den Augen zu verlieren. Gestern habe ich mich prompt verlaufen und musste eine weniger traumhafte Zusatzschleife von sieben Kilometern machen.
Ich gebe zu, ich habe ein bisschen genug von diesen nicht enden wollenden Windungen des Rheins und dem schon fast aufdringlichen Kult um den Fluss hier.
Neben dem still dahingleitenden Wasser gibt es im weltberühmten Rheintal:
die faszinierende Rheinhöhe, den imposanten Rheinfelsen, den spektakulären Rheinblick, den abwechslungsreichen Rheinsteig, den interessanten Rheinweg, die gut ausgebaute Rheinstrasse, das lauschige Rheingässchen, das romantische Rheinhotel, das historische Rheinhaus, die sagenhafte Rheinburg, das märchenhafte Rheinschloss, das mächtige Rheinkloster, das legendäre Rheingold, das ebensolche Rheinglück, das gemütliche Rheinstüble, die fröhliche Rheinschänke, den urigen Rheinkeller und den würzigen Rheinwein sowieso.
Mein hochverehrter Heinrich Heine, ich weiss nicht, was soll es bedeuten,
aber rette mich vor diesem pseudoromantischen Rhein-Wahn,
ich glaube fast, "das hat mit ihrem Singen die Lore-Ley getan".

Apropos: Ich bin auf dem Loreley-Felsen gewesen und habe auf den Rhein und die Lastkähne hinuntergeschaut.














Die Jacke

Sonntag, 30. September: St. Goarshausen - Bad Salzig

Kann ich mich hier dazusetzen, fragt mich der ältere Herr beim Abendessen im Hotel.
Wir kommen ins Gespräch.
Er stammt aus Potsdam, ist ehemaliger Kfz-Mechaniker und will hier im Rheintal einige Tage verbringen. Diese Ecke von Deutschland kenne er gar nicht.
Bernd kommt aus dem Staunen nicht heraus, als er hört, dass ich zu Fuss hierher gekommen bin. Das kann ich mir fast nicht vorstellen. Und warum machen Sie das? Ich will mich von der Fremdbestimmung lösen, in der man lange genug drin war, sage ich. "Ja, die Jacke", meint er kurz und nickt. Ich verstehe nicht sofort. Er verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt den Oberkörper so, als müsste er sich aus etwas herauswinden. "Das ist Freiheit, was Sie da machen".
Als ich ihm erzähle, wie mich in den Städten die Leute manchmal abschätzig ansehen, den bärtigen Mann mit einem grossen Rucksack, lacht er nur kurz auf: "Aha, Brückenschläfer".
Beim Frühstück nimmt Bernd plötzlich ein spitzes, scharfes Messer aus seiner Westentasche und schneidet damit das Brötchen sauber entzwei. "Sonst klaubt man ja nur den Teig raus", sagt er mit einem verschmitzten Lachen.
Beim Abschied schüttelt mir der kleine Mann aus der ehemaligen DDR herzlich die Hand. Sie müssen mal nach Brandenburg gehen und sich das Schloss Sanssouci anschauen. "Ohne Sorgen" heisst das oder sowas.






Sonntag, 30. September 2018

Unser Rhein

Samstag, 29. September: Kaub - St. Goarshausen
Freitag, 28. September: Lorch - Kaub
Donnerstag, 27. September: Rüdesheim - Lorch

Und nicht überall ist ein funktionierendes Wlan verfügbar. -
Seit Mainz bin ich vom Rheinland in den Rheingau gelangt und nach Rüdesheim hat nun das Rheintal mit seinen Weinbergen an den sonnigen Uferhängen begonnen. Der Rhein konnte hier nicht begradigt werden wie weiter oben, er behielt seinen ursprünglichen, mäandrierenden Lauf. Die schmucken Weindörfer links und rechts entlang des Rheinufers zehren heute zwar immer noch von ihrem einstigen Charme, die meisten haben aber schon etwas an Glanz verloren. Mit Stolz wird zwar überall betont, dass das Rheintal zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, doch die verkehrsreichen Landstrassen sowie die beidseitigen Zugslinien, auf denen im Fünfminutentakt auch nachts die Güterzüge durch das Tal rattern, setzen der romantischen Idylle schon ziemlich zu. Dagegen vermag auch der angeblich betörende Gesang der allgegenwärtigen Loreley nicht mehr viel auszurichten.
So bewegen sich eigentlich vor allem noch die Töff- und Radfahrer sowie die Wohnmobilisten unten im Tal, die Fussgänger wandern auf dem Rheinsteig hoch über dem Rhein in den lauschigen Wäldern und Weinbergen.







Seit der Quelle höre ich die Leute immer wieder reden von "unserem Rhein": Wir sind die erste Stadt am Rhein, wir sind die erste Kulturstadt am Rhein, die erste Grossstadt am Rhein, wir sind das Rheinstädtchen usw. Und alle reden vom Rhein, als würde er nur ihnen gehören, als würden nur sie die wahren Qualitäten des Rheins kennen und schätzen und pflegen.
Wir nehmen unseren Standpunkt und Blickwinkel gerne als Massstab für den Blick auf die Welt. So, wie wir die Welt sehen, so ist es richtig. Der Rhein ist so, wie er sich bei uns präsentiert. Jeder hat sein Bild vom Rhein, und dieses ist gespeist von jenem Punkt, von dem aus er den Rhein erlebt.
Wie ist der Rhein wirklich? Er verändert sich mit jedem Schritt, den du an ihm entlang gehst.

Und wenn du an gewissen Orten den Dreck anschaust, der da den Rhein hinunterfliesst, dann zweifelst du schon etwas am vielbeschworenen Mythos vom "Vater Rhein", dem alle so viel verdanken.