Samstag, 13. Oktober 2018

Freiheit herrscht nicht!

Samstag, 13. Oktober: Düsseldorf - Duisburg

"Der Mann ist verrückt! Hört ihr das, zu Fuss?!" sagt der Radfahrer, den ich nach dem Weg frage, zu seinen drei Kollegen. Vielleicht hat er tatsächlich recht, heute wars kein Honigschlecken: Etwa 15 Kilometer vor Duisburg führt der Weg vom Rhein weg durch Industriegebiete auf der einen und ziemlich heruntergekommene Vorstadtquartiere auf der anderen Strassenseite. Man geht alles der Strasse entlang, einmal komme ich an einem Dyianet Zentrum für türkische Kultur und Religion vorbei, die Restaurants sind nur türkisch angeschrieben. Fast niemand ist zu sehen, nur an der  Waschanlage bei einer Tankstelle poliert einer seinen schwarzen Mercedes. Ermüdend ist neben dem Asphalt und den vorbeirasenden Autos auch die - für Mitte Oktober ungewöhnliche - grosse Hitze. Beim Hotel angekommen, sind es dann schliesslich wieder 35 Kilometer, die ich heute zurückgelegt habe.


Dabei hat heute Morgen in Düsseldorf alles so angenehm begonnen. Die neuen Schuhe fühlen sich bequem an und der Himmel ist strahlend blau. Als ich am Rheinufer vorbei komme, kriechen gerade die ersten "Toten Hosen"- Fans aus ihren Wohnmobilen, gähnen herzhaft und setzen sich neben ihre Frauen auf den Klappstuhl. Ihren blutunterlaufenen Augen ist förmlich anzusehen, wie sie sich gestern Abend am Konzert heiser geschrien haben. Etwas dumpf schauen sie vor sich hin und stecken sich die erste Zigarette in den Mund. Die Welt scheint in Ordnung. Auch der weitere Weg am Ufer entlang ist sehr schön.



Es stimmt übrigens nicht, was ich gestern über die Bettler geschrieben habe. Sie haben sehr wohl eine Funktion in diesem System, sie sind so etwas wie die Kehrseite der geschniegelten Verkaufsmodels, sie sind wie ein Mahnfinger, der uns stets daran erinnert: Sieh her, wenn du nichts anzubieten hast auf dem Markt, dann endest du genau so. Und wer will das schon. Also, du hast keine Wahl, mach mit und friss, Vogel, oder stirb.









Freitag, 12. Oktober 2018

Killepitsch

Freitag, 12. Oktober: Düsseldorf

Heute muss ich wirklich neue Schuhe kaufen, in den alten gehe ich schief wegen des seitwärts abgelaufenen Profils. Das spüre ich dann in den Knien.
Ich mache mich auf zum Outdoorgeschäft in der Kö, der grossen Einkaufsstrasse von Düsseldorf. Zielstrebig gehe ich an den Schaufenstern vorbei und im Laden selbst werde ich, dank einer kompetenten Verkäuferin, schnell fündig.
Wieder auf der Strasse lasse ich mich treiben an den unzähligen Schaufenstern mit den darin ausgestellten Waren vorbei. Alles schreit dich an: Guck mich an, kauf mich, du brauchst mich, damit du noch cooler, hipper, verführerischer, erfolgreicher wirst. Schöne Frauen, smarte Männer stehen als lebende Beweisstücke hinter den Verkaufstischen. Mich berührt das alles seltsam wenig heute, denn ich benötige gar nichts mehr, mein Rucksack ist voll. Die Waren üben keinen Reiz, keinen Sog auf mich aus, ich sehe sie zwar, aber sie gehen mich nichts an, die Anmache zielt ins Leere; mir ist, als gäbe es hinter diesen tausend Scheiben keine Welt.
Du hast hier nichts verloren, denke ich, wenn du in diesem System, in dem es nur ums Konsumieren geht, nicht mitmachen willst - oder kannst.
Wehe dir, wenn du nicht kannst!
Zwischen den Geschäften gibt es auffallend viele bettelnde Menschen. Sie können nicht mittanzen in diesem Konsumkarussell. Auch sie möchten mein Geld, aber im Gegesatz zu den Geschäften bieten sie nichts an, sie sind nur anwesend mit ihrer erbärmlichen Existenz. Das ist eine Provokation, eine Frechheit: Wie kann jemand in dieser Welt des Tausches von Ware und Geld, wo es nur um das Preis-Leistungsverhältnis geht, etwas fordern und  n i c h t s  anbieten? Sie erpressen dein Mitleid, sie pochen auf deine Mitmenschlichkeit, und das ist ärgerlich; und dass sie sich dabei selbst erniedrigen, macht die Sache nur noch schlimmer. Und weil es oftmals so aufdringlich ist, wirst du misstrauisch und witterst dahinter Kalkül und bandenmässiges Konzept.
Wie man es dreht und wendet, sie passen nicht ins System.


Ich flaniere durch die sonnendurchfluteten Strassen und plötzlich stehe ich vor dem Geburtshaus des Dichters Heinrich Heine, diesem genialen Poeten, der die kleinmütige Philisterseele so scharfzüngig entlarvte, doch tief im Herzen zeitlebens ein unverbesserlicher Romantiker blieb.


Am Abend sind Tausende von Menschen unterwegs in der Stadt. Einige tragen ein T-Shirt der "Toten Hosen". Die spielen heute Abend in Düsseldorf. Aber auch sonst herrscht Hochbetrieb. Ich frage jemanden, ob es etwas Bestimmtes zu feiern gäbe heute. Nein, das sei eigentlich immer so. Schau nicht so ernst und trink einen Killepitsch! heisst es jetzt. Ich bin in der Kneipe "Et Kabüffke" gelandet, wo der Düsseldorfer Kräuterlikör ursprünglich herstammt. Man erklärt mir, der Name komme daher, dass man in den Kellern nie wusste, wann die Bombe einschlägt und einen umbringt, daher wollte man vorher noch einen pitschen (trinken), bevor man gekillt wurde.




Nathan to go

Donnerstag, 11. Oktober: Rheindorf - Düsseldorf

Im Hotel Rheinischer Hof war gestern nur noch das Personalzimmer im Dachstock frei, das normalerweise nicht vermietet wird. Während ich in der Gaststube warte, macht es die Frau des Patrons bereit. Sie ist eine Muslimin, die ihre Haare unter einem Kopftuch verhüllt. Im Zimmer liegt der Koran auf statt wie in andern Hotels eine Gideonsbibel. Am Morgen kommt die Frau auf mich zu und wünscht mir alles Gute auf meinem Weg. Ihr Mann habe ihr von meinem Vorhaben erzählt und sie sei sehr beeindruckt.
Der Rad- und Wanderweg am Rhein Richtung Düsseldorf heisst "Neanderland-Steig".




Im Schauspielhaus Düsseldorf steht heute Abend "Nathan (to go)" auf dem Programm. Das will ich mir auch nach 37 Kilometern in den Beinen nicht entgehen lassen. Die Inszenierung ist packend, die Schauspielleistungen präzise. Jedes Wort von Lessings wie in Marmor gehauenen Blankversen steht glasklar im Raum. Doch das Stück ist ja auch gefährlich. Seine Botschaft droht zur leeren Hülse zu verkommen, weil sich heutzutage jeder Politiker, jeder Konzern, jeder Sportverein, jeder Popstar und jedes Theater mit der darin angesprochenen Toleranz brüstet. "Nathans Ring ist so gross geworden, dass alles hineinpasst und er nichts Spezifisches mehr fasst", schreibt Navid Kermani im Programmheft. Dieser Kitsch-Falle entgeht die Inszenierung auf kluge Weise. So werden die gegenseitigen freudigen Umarmungen am Schluss des Stücks als Video gezeigt, während die "echten" Figuren stumm und isoliert voneinander langsam vor die Projektion treten.


Mittwoch, 10. Oktober 2018

Nothing to say

Mittwoch, 10. Oktober: Köln - Rheindorf

Jemand fragte neulich, ob ich denn nie Musik höre unterwegs oder am Abend. Musik? - ich wüsste nicht was. Und zudem höre ich die ganze Zeit Geräusche, Gemurmel, Töne und Musik. Ich höre die Vögel zwitschern und schnattern und krächzen, ich höre das Rauschen der Bäume, ich schnappe Satzfetzen von Gesprächen auf, "we need to develop" hörte ich heute einen Mann in weissem Hemd zu einer Frau im Businesskleid sagen, ich höre das Dahingleiten des Rheins, das Brummen der Schiffe. Heute fuhr ein Lastkahn an mir vorbei, auf dem ein Bordmechaniker selbstvergessen eine wunderschöne Melodie pfiff, das Schiff hiess Componist. Aus einer Seitengasse in Köln höre ich ein Saxophon jaulen "I did it my way" und unter einem Torbogen singt ein Strassensänger den BAB-Song "Verdammt lang her". Was soll ich Musik hören; es ist genug Musik in der Luft und in meinem Kopf sowieso. Vor dem Bayer-Areal in Leverkusen höre ich ein Huhn gackern, was mich an einen Song von John Lennon erinnert mit dem Refrain "I've got nothing to say but it's okay".
"Sie sind Schweizer und sind zu Fuss hierhergekommen, stimmts?" sagt ein jüngerer, sehr kommunikativer Mann, als ich ihn und seinen Kumpan vor dem Gitter des Industrieareals nach dem weiteren Weg frage. Wie er darauf komme, frage ich. Na, der Akzent, die Trekkingschuhe, der Rucksack und die Gangart, lacht er. Ich komme sofort ins Gespräch mit den beiden und wir gehen ein Stück zusammen, bis sie sicher sind, dass ich den weiteren Weg auch ohne sie finden werde. Danke für eure kurze, aber sehr angenehme Gesellschaft, Sime und Tom!



Das Areal von Bayer ist riesig und ich muss aussen herum gehen, der Rheinuferweg ist gesperrt. Als ich die Orientierung wieder verliere, frage ich einen Mann, der aus dem Areal tritt, nach dem Weg. Ich zeigs Ihnen, ich muss auch in diese Richtung. Es ist Mittagspause und der Mann will noch etwas die Beine vertreten, bevor er zurück in sein Büro muss. Wir sind uns bald einig: Diskussionen führen und Entscheidungen treffen sollte man im Gehen statt im Sitzen, in der Politik und in der Wirtschaft wie auch im privaten Leben. Am Schluss unseres Gesprächs gibt er mir die Hand und sagt: "Das war jetzt für mich eine sehr erfreuliche Mittagspause, Ihnen weiterhin viel Glück!"



Dienstag, 9. Oktober: Köln

"10.30 habe ich noch einen Termin frei", sagt Bruno, der Friseur, am Telefon. Sein schlichtes, aber sehr erlesen eingerichtetes Geschäft neben dem Waschsalon ist mir schon am Montag aufgefallen. Bruno ist ein älterer Herr aus Italien, der sein Handwerk mit grosser Fertigkeit und Eleganz ausübt. "Ich mache alles mit der Schere, ich brauche keine Maschine," sagt er. Und dann: "Also, ich beginne bei den Augenbrauen."
Im Hintergrund läuft Paolo Conte.


Am Mittag hole ich Barbara vom Bahnhof ab und wir besuchen zusammen die Ausstellung der Bilder von Raphael Egil in der Galerie Michael Werner.
Wir verweilen lange.


Montag, 8. Oktober: Köln

Die Dame im Waschsalon kümmert sich rührend um mich, als sie hört, warum es nur die paar Sachen sind, die es zu waschen gibt.
Nachher gönne ich mir eine traditionelle Thailändische Massage. Ich liege auf dem Bauch, das Gesicht auf zwei zusammengerollten Tüchern aufgestützt. So ahne ich nur, beziehungsweise spüre, wie die Dame mich traktiert. Ich bin sicher, sie kniet auf meinem Rücken und drückt ihre Ellenbogen in meine verspannten Schultermuskeln. Dann kneift sie mit Daumen und Zeigfinger meine Nackenmuskeln, dass ich laut aufheule. Mit den Waden geschieht ähnliches und die Beine werden geknickt und einwärts und nach aussen gebogen. "Das ist Yoga und Thai-Massage zusammen", sagt die Masseuse. Als ich nach einer Stunde aufstehe, ist mir, als würde ich jeden Muskel an meinem Körper einzeln spüren. Wieder auf der Strasse glaube ich aus einer andern Welt zu kommen.


Dann treffe ich bei der Rheinterrasse Bernd, den nach Luzern ausgewanderten Vorstadtkölner, der zwischen zwei Babysitter-Terminen bei seiner Enkelin in Zürich für ein paar Tage in Köln weilt. Unser Programm: Zuerst einige Kölsch und einen "halve hahn" in der Traditionskneipe Lammersdorf, wo sich die Fans des 1. FCK für das bevorstehende Fussballspiel warmtrinken, dann Sonnenuntergang auf dem Hochhaus Kölntriangle in Deutz, dann Abendessen beim exzellenten Italiener und zum Abschluss den Film "Dogman" am Filmfestival Cologne. Einmal mehr bekomme ich es mit Hunden zu tun...



Sonntag, 7. Oktober: Bonn - Köln

Ein nebliger Sonntagvormittag. Nach ein paar Kilometern kommt mir ein Paar mittleren Alters entgegen und der Mann fragt mich spontan, was ich denn vorhabe. Ich erkläre einmal mehr und frage dann zurück: Und was machen Sie an diesem trüben Morgen hier draussen? - Wir sind beide im Therapiebereich tätig. Ich bin vor kurzem aus meiner Ehe ausgestiegen wegen ihr und wohne jetzt in ihrem Wohnmobil. Er blickt zur Frau an seiner Seite und sie nickt lächelnd.



Samstag, 6. Oktober: Remagen - Bonn

Sieben Kilometer nach Remagen erreiche ich den Bahnhof Rolandseck, wo sich auch ein Museum des Künstlers Hans Arp befindet. Die Mischung aus Eisenbahnzügen und Kunst ergibt eine ganz eigenartige Atmosphäre: Kunst erfordert das Innehalten, Verweilen und geistige Schweifen, die Züge bewegen sich in festen Bahnen und drängen so schnell wie möglich weiter.















FAQ & Facts

Dienstag, 9.10.: Köln   

Was mir lange Zeit ziemlich unwirklich erschien, ist nun doch wahr geworden: Ich bin am Sonntag in Köln eingetroffen.
Höchste Zeit also für eine Zwischenbilanz und für einige Fakten zu meinem Rheingang.


Bis jetzt bin ich ungefähr 1'300 Kilometer gegangen. Weshalb "ungefähr"? Ich habe die zurückgelegte Tagesstrecke mit einem Schritt- bzw. Kilometerzähler registriert und bei der Ankunft in der Unterkunft jeweils notiert. Was ich später noch innerhalb eines Ortes gegangen bin, habe ich nicht mitgerechnet. Nur einmal, in Mannheim, habe ich gesehen, dass ich an einem "Ruhetag" auch 16 Kilometer gemacht habe.
Bis Rotterdam sind es laut Karte noch rund 500 km, allerdings kommen dann noch ca. 30 km bis zur Mündung dazu.

Pro Tag lege ich so zwischen 25 und 35 km zurück. An manchen Tagen, wie z.B. von Bonn nach Köln, können es auch mehr sein (38 km). Im Durchschnitt gehe ich etwa 6 km pro Stunde. Die Länge einer Etappe ist abhängig von den Unterkunftsmöglichkeiten und natürlich auch von meiner Befindlichkeit.
Ich orientiere mich vorwiegend anhand der App "maps.me" sowie einem Radtourenbuch aus der Reihe "Rhein-Radweg".

An gewöhnlichen Werktagen buche ich meine Unterkunft nicht im Voraus, sondern suche ein Zimmer bei meiner Ankunft. Wenn es nur wenig Hotels gibt oder an Wochenenden bzw. Feiertagen, reserviere ich online ein bis zwei Tage vorher. In den Städten sind die Hotels generell teurer als in den kleineren Ortschaften. Völlig überteuert sind sie dann, wenn gerade ein Kongress stattfindet, wie das in Mannheim oder Mainz der Fall war. Die Touristenbüros haben zwar Hotellisten mit den freien Zimmern, da aber nicht alle Unterkünfte darin enthalten sind und meistens nur die teureren, werde ich meist schneller fündig, wenn ich online suche oder vor Ort direkt frage. Durschnittlich kostet ein Zimmer mit Frühstück in einem Zwei- bis Dreisternhotel zwischen 60 und 70 Euro.

Meine Ausrüstung besteht aus einem Rucksack von etwa 9 kg. Er entält warme Kleider, Regenschutz, Ersatzwäsche sowie eine "zweite Garnitur" Kleider für abends. Mein leichtes Wanderhemd wasche ich jeden Abend.
Ich trage leichte, über die Knöchel reichende, Wanderschuhe, die bis jetzt gehalten haben. In der gebirgigen Schweiz waren sie ideal, jetzt würden Halbschuhe ausreichen. Da die Profile allmählich abgewetzt sind, muss ich nächstens neues Schuhwerk kaufen, was ich allerdings vor mich herschiebe, da ich nicht weiss, wie meine Füsse darauf reagieren werden.

Mein Tagesprogramm sieht normalerweise so aus: Ich starte jeweils etwa um 9 Uhr. Pausen unterwegs mache ich nur sehr wenige, etwa alle zwei Stunden ca. 15 Minuten. Manchmal esse ich tagsüber nur einen Apfel und ein paar Baumnüsse, doch wenn ich an einem schönen Restaurant vorbeikomme, lege ich eine längere Pause ein und esse auch mal eine Suppe oder einen Salat. Wichtig ist viel trinken. Am Abend dann nehme ich eine ausgiebige Mahlzeit zu mir, allerdings nicht zu spät.
Tagsüber gehe ich meistens allein, ausser wenn sich mit jemandem mal ein Gespräch ergibt. Beim Abendessen kann es schon vorkommen, dass ich an einen Tisch zu anderen Leuten gesetzt werde, was meistens dazu führt, dasss man miteinander ins Gespräch kommt und noch länger sitzen bleibt.

Für ein ausgedehntes Abendprogramm bin ich oftmals zu müde, andererseits gab es bis jetzt in den kleineren Ortschaften auch keine kulturellen Aktivitäten, die mich wirklich interessiert hätten. In Köln wäre ich zwar gern ins Theater gegangen, aber an den beiden Abenden lief gerade nichts Ansprechendes, so besuchte ich mit Filmfreak Bernd halt einen Film im Rahmen des Filmfestivals Cologne.