Mittwoch, 24. Oktober 2018

Historisch

Mittwoch, 24. Oktober: Gorinchem

Die Innenstadt ist sehr schmuck mit ihren alten Häusern und deren hohen Wohnzimmerfenstern, mit der Windmühle und dem Kanal, an dem die schweren Holzboote vertäut sind. Nachdem ich heute Morgen meinen Espresso getrunken habe, schlendere ich mehr oder weniger ziellos durch die Gassen und plötzlich frage ich mich, wonach ich eigentlich Ausschau halte: Ich sehe Statuen von irgendwelchen Königinnen oder Eroberern aus früheren Jahrhunderten, verspielte Springbrunnen, Gedenkinschriften für gefallene Soldaten, alte Kanonen, Rüstungen, riesige Anker mit Blumen geschmückt, Skulpturen geschenkt von Partnerstädten, Festungsanlagen, geziegelte Kirchen, pittoreske Häuserfassaden, auf denen die Daten der letzten Überflutungen eingraviert sind, usw. Hinter all diesen Dingen stecken Geschichten, die ich nachlesen oder mir erklären lassen könnte. Irgendwie reicht es mir jedoch, einfach wahrzunehmen, dass es das alles gibt.




Solche Orte werden übrigens oft "historisch" genannt. Und was ist mit den andern, die nicht mit diesem Attribut versehen sind? Heute ging ich aus dem Stadtkern in die "Oststadt" hinaus (weil ich etwas besorgen musste) und dann wurde schnell klar, warum dieses Etikett hier nicht passt. Nämlich weil dieser Stadtteil nicht nur geschichts-, sondern auch gesichtslos ist, will heissen, solche Stadtteile mit funktionalen Wohnsiedlungen und mitten drin einem trostlosem Einkaufszentrum wurden irgendwann gebaut, können irgendwo stehen; es gibt sie in jedem Land, sie gleichen sich allesamt. Und entsprechend blicken auch die Leute drein. Der Buchtitel "Die Erotik der Tapete", wie es Ludwig Hasler frei nach Oscar Wilde nannte, kommt mir in den Sinn: Schau dir die Tapete der Leute beziehungsweise ihre Umgebung an, dann brauchst du dich über ihren Gesichtsausdruck nicht zu wundern.


Der tiefe Wassserstand des Rheins berührt mich zuweilen seltsam. Es ist ein erbärmlicher Anblick und hat etwas Hilfloses, wenn am Ufer die Schiffe auf die Seite gekippt oder die Hausboote schief auf ihren Schwimmkörpern halb im Trockenen liegen. (Klar, solche Bilder sieht man bei der Ebbe auch, aber es bleibt immer der Trost durch das Versprechen der Flut.) Die Schiffsstege führen meistens steil hinunter bis zum Einstieg in die Exkursionsboote, wenn diese überhaupt noch in Betrieb sind. Und die Motorschrauben der fahrenden Schiffe wirbeln viel Dreck vom Boden auf, damit sie überhaupt vorwärts kommen. Es ist eigenartig, wenn das Element, auf welches alle diese Fahrzeuge und Geräte angewiesen sind, von dem sie alle abhängen und ohne das sie eigentlich nutzlos werden, einfach wegzubleiben droht.
Wasser ist Leben, sagt man. Wir brauchen Wasser um zu leben, als Lebewesen bestehen wir grossmehrheitlich aus Wasser und wir sind auch im täglichen Wirtschaften davon abhängig.
Wasser hat keine eigene Form, es fliesst überall hin, wo es will, erst ein Gefäss gibt ihm die Richtung. Darin gleicht es dem Leben: Auch dieses hat keine eigene Form, es ist nicht fassbar, erscheint nur durch ein Lebewesen. Wasser ist Leben, also auch symbolisch gesehen.
Die Vitaliät geht verloren, wenn das Wasser fehlt, wörtlich wie symbolisch.






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