Sonntag, 9. September 2018

Trott oder Trance?

Freitag, 7. September: Neuenburg - Breisach

Stundenlang führt der Weg parallel zum Rhein geradeaus, immer gleich: vor mir der Schotterweg, rechts am Wegrand alle hundert Meter die nummerierten weissen Betonpfeiler mit den Streckenangaben, 1, 2 , 3..., links die Uferböschung mit dem Eichenwald und dahinter der Rhein. Ich beginne die Schritte zu zählen zwischen den einzelnen Markierungen, hundertfünfundzwanzig sind es und ich brauche dafür ziemlich genau eine Minute. Man könnte daran verzweifeln, immer dasselbe, dieselben Geräusche, dieselbe Landschaft; ein Kind würde wohl anfangen zu weinen: Hört das denn nie auf? - Und du verfällst in einen Trott, gehst einfach, hörst deine Schritte, senkst den Blick auf den Weg zwei drei Meter vor dir, bis du nur noch am Gehen bist, mechanisch, es gibt nichts anderes mehr, nur noch diese eine Bewegung, kein Ziel, keine Zeit mehr. Und du gerätst allmählich in einen Zustand, den man vielleicht als Trance bezeichnen kann. Möglicherweise empfindet ein Derwisch ähnlich, wenn er sich stundenlang um sich selbst dreht. Die Ruhe in der Bewegung.
Und es ist irgendwie, als würde das Bewusstsein ausser Kraft gesetzt, man ist wie in einem Dämmerzustand, halbwach, die Augen sind halb geschlossen und trotzdem nimmst du ganz viel wahr. Mir ist, als befände ich mich auf der Schwelle zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein, wie auf der Wasserlinie eines Schiffes, dessen einer Teil unter dem Wasser liegt und der andere darüber; oder wie an jener Stelle eines Baumes, wo die Wurzeln sich zum Stamm bündeln, bevor er in die Höhe wächst. Die Gedanken (oder wie man das nennen will) schwanken hin und her zwischen unten und oben, die wahrgenommenen Dinge vermischen sich mit den Einbildungen, Düfte wecken Erinnerungen, Geräusche entzünden die Phantasie, werden zu Metaphern, zu Zeichen für etwas, das man schon lange in sich trägt: "Alles ist ewig im Innern verwandt", heisst es bei Clemens Brentano im Gedicht "Sprich aus der Ferne". 
Oder es ist wie bei Eichendorff: 
"Schweigt der Menschen laute Lust:
Rauscht die Erde wie in Träumen 
wunderbar mit allen Bäumen, 
was dem Herzen kaum bewußt, 
alte Zeiten, linde Trauer, 
und es schweifen leise Schauer 
wetterleuchtend durch die Brust."



Und irgendwann macht der Weg dann eine Kurve in den Wald hinein, führt nach einer Weile wieder links, macht einen weiteren Bogen nach rechts und plötzlich meine ich in die völlig falsche Richtung zu gehen. Ich spüre, wie ich langsam die Orientierung verliere. Und so habe ich mich gestern auch verirrt, als ich glaubte, eine Abkürzung quer durch den Wald nehmen zu können. Das deutsche Unterholz ist nicht zu unterschätzen! Es kann schnell zum Dickicht werden. Der Preis: zerkratzte Beine und Spinnweben im Gesicht. - Solange ich den Rhein sehe, fühle ich mich sicher, der Rhein gibt irgendwie Halt; seine Stetigkeit beruhigt; ich weiss, die Richtung, in die er fliesst, ist auch meine Richtung.




Nachtrag zu den blinden Signalen: Das Rätsel um die schwarzgelben Pflöcke hat sich gelöst, es sind tatsächlich alte Schiffspoller aus der Zeit, als der Wasserspiegel des Rheins viel höher war und es eine rege elsässische Rheinschifffahrt auf dem Altenrhein gab.



Es gibt allerdings immer noch genug Zeichen am Wegrand, die ihren Sinn verloren haben: Eine Barriere, wo es gar keinen Durchgang gibt, oder ein Stück Mauer, auf das jemand BM geschrieben hat: Berliner Mauer?










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