Montag, 3. September 2018

Gehen - Lernen

Sonntag, 2. September: Laufenburg - Rheinfelden
Es gibt Tage, da denke ich beim Aufstehen, ich könne heute keine hundert Schritte gehen. Die Beine sind noch steif und die Füsse schmerzen beim Auftreten.
Blasen habe ich zwar keine mehr - in "Spitzenzeiten" hatte ich sieben Pflaser gleichzitig an den Füssen - und auch der Muskelkater der ersten Tage hat sich verzogen, aber so richtig beweglich fühle ich mich am Morgen selten.
Auch beim Losgehen bin ich noch etwas skeptisch, wenn ich mir die bevorstehende Strecke vergegenwärtige.
Meistens lege ich pro Tag etwa 25 Kilometer zurück, die letzten beiden Abschnitte warens je gegen 35. Die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei gut sechs Kilometern pro Stunde. Pausen mache ich nur wenige.
Aber schon nach wenigen hundert Metern finde ich meinen Geh-Rhythmus vom Vortag wieder und dann beginnt sich auch die Umgebung wieder in Bewegung zu setzen. Mit jedem Schritt verändert sie sich, verändert sich alles.
Was war - Hotelzimmer, Frühstück, Gastleute usw. - verflüchtigt sich immer mehr, was kommt, sehe ich auf dem Weg vor mir - Baumkronen, Wurzeln, Brücken - und was ist - Laub, Kies, Asphalt - spüre ich jedesmal, wenn ich den Fuss aufsetze.
Und immer da, immer anders, immer neu: der Fluss, das Wasser.
Und die einförmige Bewegung der Schritte geschieht plötzlich nicht mehr willentlich, sondern läuft wie von selbst.



Und plötzlich spürst du, wie sich die Zeit auflöst, wie sie keine Bedeutung mehr hat. Es gibt nichts mehr, das dich hält noch drängt, es gibt nur noch diese Bewegung.
Du hörst zwar schon die Kirchenglocke viertel nach elf schlagen, aber das bedeutet nichts, und du siehst die Wegweiser mit den Zeitangaben - fünf Stunden, drei Stunden zwanzig - aber es ist dir völlig egal, denn die Zeit spielt keine Rolle mehr, du hast ja keine Termine; was bedeutet es schon, ob du die Zeit hier verbringst oder dort oder unterwegs, da sein ist wichtig, wahrnehmen, atmen, riechen, anfassen und gehen, gehen, gehen, immer weiter, gehen, einfach gehen...
Und es überholen dich Jogger, schwarz gekleidete Nordic-Walker; Radfahrer kommen dir entgegen und Hündeler und Mütter mit Kinderwagen und alte Ehepaare - und plötzlich wird es mir klar: Es geht mir nicht um Leistung, nicht um Kraft oder Fitness und auch nicht um Erholung, es geht mir um die Befindlichkeit, um das Bewusstsein, um das Zu-mir-Kommen, um das Bei-mir-Sein. Und das suche ich jeden Tag, ja ich bin geradezu ungeduldig, bis ich wieder in diesen Zustand eintauchen kann (Marathonläufer erzählen bisweilen von einem Flow, in den sie beim Laufen geraten).
Und du spürst auch, wie du nicht mehr schummeln kannst, dich nicht mit Worten täuschen oder belügen kannst, du kannst nicht abkürzen, es gibt nur den Weg, auf dem du jetzt gehst. "Ein Weg ist ein Weg auch im Nebel", sagt Max Frisch in der Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän". Und du wirst ehrlich und offen - alles andere wäre sinnlos - und sehr genau in den Beobachtungen und Empfindungen und du wirst - ich zögere es zu sagen - demütig.
Wir lernen in jungen Jahren aufrecht zu gehen und glauben es dann ein für alle mal zu können.
Gehen lernen ist ein nie abgeschlossener Prozess.



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