Freitag, 14. September 2018

Alter Ego

Donnerstag, 13. September: Kehl - Rheinau-Freistett

Plötzlich zweigt der Weg wegen eines Kieswerks ab vom Rhein und du läufst eine Weile rechts, dann wieder links, dann wieder gradeaus und plötzlich stehst du auf einem Damm mitten im Wald und weisst nicht, ob es der richtige oder der falsche ist. Wenn du auf dem falschen bist, dann musst du damit rechnen, dass du jetzt lange keine Möglichkeit mehr hast, den Irrtum zu korrigieren. Wenn sich auch noch die Wolken am Himmel bedrohlich verdunkeln, dann tust du gut daran, die nächste Siedlung aufzusuchen und nach einer Unterkunft Ausschau zu halten. Aber als du aus dem Wald kommst, steht vor dir nur ein Kalksandwerk, das viel weissen Staub aufwirbelt. Als der sich verzieht, siehst du an der Strassengabelung drei jüngere Frauen herankommen. Sie geben bereitwillig Auskunft, wo ich heute Nacht ein Logis finden könnte, und nach einem sympathischen Schwatz kehren sie wieder zurück in ihre Büros. Gerade als ich mein Zimmer im schlichten Hotel für Kalkwerkarbeiter bezogen habe, beginnt es heftig zu regnen.



Freitag, 14. September: Rheinau-Freistett - Iffezheim
Ich gebe es zu: Ich führe Selbstgespräche. Nur, wer spricht da eigentlich mit wem? Das Ego mit dem Alter Ego? Und wer stellt die Fragen, das Ego oder das Alter Ego? Wer vertritt welche Haltung, wer argumentiert wie bei einer Entscheidung? Und wer vertritt jeweils den gesunden Menschenverstand? - Ich halte nicht viel von dieser Vorstellung, es sind vielmehr ganz viele Stimmen, die sich regen und zu Wort melden. Selbstgespräche sind wie Antworten auf hypothetische Fragen, die irgendjemand  m i r   b e k a n n t e r  stellt, oder Kommentare, Bemerkungen, Einwürfe zu bestimmten Situationen. Sind es die "tausend Stimmen im Grund", von denen Eichendorf  schreibt? - Es ist ein Gewirr von ständig wechselnden Stimmen, ein ununterbrochener Dialog mit verschiedenen Figuren, jungen, alten, längst verstorbenen, fiktiven, sympathischen, unsympathischen, autoritären usw., es ist wie mein Welttheater, in dem sie alle vorkommen. Manche sind neugierig-interessiert, wohlwollend, liebevoll, aufbauend, andere ironisch, zweifelnd, ketzerisch, spöttisch, zersetzend. Und ab und zu kommt es vor, dass ich ein Wort oder einen Satz ganz laut vor mich hinsage: "Shelter from the storm!" oder "Lehreraustreibung!" oder "Pack dich fort!". Manchmal lasse ich die Figuren auch gegeneinander antreten. Sollen sie doch selbst miteinander rechten, ich helfe lieber einem kleinen, schwarzen Käfer wieder auf die Beine, der auf den Rücken gefallen ist und mit den Füssen strampelt.

Einmal kommt mir heute auf einem weit abgelegenen Kiesweg ein Dunkelhäutiger auf einem Damenfahrrad entgegen. Vorne hat er sein Handy montiert, aus dem afrikanische Musik ertönt. Selbstvergessen singt er laut mit. Als er an mir vorbeifährt, grüsst er freundlich.






Und dann fragen mich zwei Radfahrerinnen an einer Verzweigung, ob der Weg auf dem Rheindamm weiterführe. Es stellt sich heraus, dass die beiden seit Amsterdam unterwegs und auf dem Weg nach Luzern sind. Priska ist aus Gunzwil und Vreni aus Gisikon. Als Vreni hört, dass ich alles zu Fuss mache, möchte sie ihr E-Bike mit dem Akku, den man ständig aufladen müsse, grad stehen lassen und mit mir gehen. Wir verabschieden uns herzlich.



Und dann sind da immer wieder die Zeichen, die man bei uns nicht antrifft.


1 Kommentar:

  1. Wir sind dank Deinem Blog wieder voll dabei! :-)

    https://www.flickr.com/photos/1000-kilometer/8040231593/in/album-72157631852759163/

    Liebe Grüsse Claudia & Harry

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