Samstag, 25. August 2018

Einfach gehen

Freitag, 24. August: Oberriet - St. Margrethen
Von Oberriet aus gehts fast fünfzehn Kilometer schnurgerade dem Rheintaler Binnenkanal entlang. Menschen begegne ich fast keinen (manchmal frage ich mich schon, wo sie alle sind), obschon ich auch an landwirtschaftlichen Betrieben und Siedlungen vorbei komme.



Während alle an der Arbeit sind, ist meine Tätigkeit das Gehen, einfach gehen.
Das Sein im Gehen.
Ich bewege mich ständig vorwärts, und doch bleibe ich immer derselbe. Derselbe Kopf, derselbe Rucksack, die selben Blasen an den Füssen.
Die Landschaft verändert sich mit jedem Schritt, aber ich bleibe immer ich selbst.
Und während ich von Ort zu Ort gehe, zählt nicht, was ich war, woher man kommt, was man geleistet hat; niemand ist da, der für dich zeugt, du kannst dich auf niemanden berufen. Du definierst dich nur aus dem Moment, nicht mehr über deine gesellschaftliche Funktion.
Nur die Füsse, die Beine, der Bauch, die Arme, der Kopf, das Herz.
Es gibt nur das Hier und Jetzt: Was du siehst, was du riechst, was du hörst, was du empfindest, was du denkst.
Und plötzlich breitet sich beim Gehen dein ganzes Leben vor dir aus wie eine riesige Fläche und du kannst sie anschauen wie einen Film. Du bist völlig frei irgend einen Teil davon heranzuholen und genau anzuschauen: Wie war das damals, als wir von Ems nach Luzern zogen? Und du siehst alles glasklar vor dir. Wie du dachtest, dass das nur Ferien seien und dass ihr nach einer Weile wieder zurück gehen würdet. Wie du nicht wusstest, welche der beiden Welten die richtige war, die des Rheins oder die der Reuss - dabei gab es doch nur eine.
Jemand sagte letzthin in einem Gespräch mit ironischem Unterton: Du gehst davon. Er meinte es im Sinne von fliehen, weglaufen.
Ja, in diesem Sinne schon: Ich will mich von den Strukturen lösen, in denen ich nun mehr als dreissig Jahre drin war; ich will mich aus dem Korsett, in welchem man zwar oft ächzte, welches einem aber auch Halt und Sicherheit gab, herausschälen; nicht mehr einem vorgegebenen Plan folgen, sondern meinen eigenen Rhythmus finden. Schritt um Schritt. Nicht mehr dem System gehorchen, sondern seinen eigenen Gesetzmässigkeiten. Keine Unterscheidung mehr in ein Leben A und ein Leben B.
Gehen. Sein im Gehen.
Wie das (leider weggeräumte) Räuberrad vor der Berliner Volksbühne.



Und jetzt seis auch gesagt, warum zu Fuss und nicht mit dem Velo: Ich will mich nicht sitzend fortbewegen, sondern aufrecht; ich bin genug (herum-) gesessen in Studierzimmern, Sitzungsräumen, Wartsälen und Wohnzimmern. Und ich will die Hände nicht um ein Lenkrad klammern müssen, ich will sie frei haben um damit herumzufuchteln, um Brombeeren von den Sträuchern zu pflücken und um sie ins Wasser zu tauchen. Und ich will mit den Füssen am Boden stehen.

Nachtrag zu Ems: Mitti schreibt mir, gestern habe der kleine Matti Fadri das Licht der Welt erblickt.


Samstag, 25. August: St. Margrethen - Reineck - Altenrhein - Rorschach
Manchmal erschreckt es mich, wie heruntergekommen viele Schweizer Städtchen sind. Leerstehende Gasthäuser und Geschäfte mit eingeschlagenen Scheiben, Hotels gibt es nur mehr wenige, viele geben schon gar keine Sterne mehr an. Auch im Ochsen in St. Margrethen bin ich der einzige Gast.

Dafür hat mir die freundliche Dame im Touristenbüro in Rorschach eine märchenhafte Unterkunft vermittelt im Schloss Wartegg, dem Bio-Hotel am Bodensee.



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