Montag, 20. August 2018

Das Rauschen des Rheins

Montag, 20. August: Domat/Ems
Ich sitze im Garten des Hotels Sternen. Gestern Mittag bin ich hier angekommen. Hinter mir plätschert das Wasser des Teichs, die Goldfische schweben träge unter den Seerosen. Aus der Ferne dröhnt der Motorenlärm der A13. Die ehemals renommierteste Adresse des Dorfes ist etwas heruntergekommen, einige seiner Sterne sind erloschen. Entsprechend sind die Zimmer leer - ich bin der einzige Gast.



In Luzern geht heute die Schule los und ich denke an meine Kolleginnen und Kollegen, die jetzt wieder vor den vielleicht zwar ferienmüden, aber gewiss erwartungsvollen Jugendlichen stehen. Der Stundenplan diktiert jetzt wieder ihren Takt.
Hier in Ems, wo ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe, gönne ich mir meinen ersten freien Tag. Immerhin habe ich schon mehr als hundert Kilometer in den Beinen. Meinen Takt bestimmt der Rhein.

Freitag, 17. August: Disentis - Trun - Tavanasa
Nach dem Besuch der Vesper in der Marienkirche des Klosters Disentis, gesungen von den zwölf Benediktinermönchen, mache ich noch einen Spaziergang durchs Dorf und gehe früh schlafen.



Am andern Morgen führt mich der Weg vom Dorf hinunter zurück an den Rhein. Sein Rauschen ist mächtiger geworden und es übertönt (oder verschluckt?) alle andern Geräusche. Erst jetzt wird mir bewusst, dass mich dieses Rauschen seit dem Lai da Tuma begleitet und dass es sich von Ort zu Ort, von Stunde zu Stunde stetig verändert. Mir fällt auch auf, dass es eigentlich immer die gleichen Dinge sind, die ich wahrnehme und denen ich begegne und die so etwas wie einen Rhythmus ergeben: der Rhein, der Weg, der Wald, die Wiese, die Brücke, die Schwalben, die Hochspannungsleitungen, das Kirchengeläut, die Dörfer an den Hängen, die Passstrasse, die Unterkunft.

In Trun besichtige ich die begehbare Skulpur "ogna" des von hier stammenden Künstlers Matias Spescha.





In Tavanasa ist es die Ustria Crusch Alva, wo ich absteige (wobei absteigen den Vorgang nicht trifft, denn ich habe kein Pferd dabei).
Am Abend bin ich zu Gast bei David und Annadora, die Capuns gekocht hat, die besten seit jenen meiner Grossmutter. Zusammen mit ihrem Töchterchen Valentina wohnen sie in einem Haus am Dorfrand von Danis an einem märchenhaften Eichenwald. David erzählt vom Dorf, seinen Bewohnern, seiner Geschichte und seinen Geschichten, vom Kampf der Bevölkerung um ihre Brücke ("Nossa Punt"), die abgerissen werden sollte und die jetzt ein Kulturdenkmal ist, und davon, wie dieses Dorf sein Lebenszentrum sei. Ich glaube es ihm.

Samstag, 18.. August: Tavanasa - Ilanz - Ruinaulta - Versam
Früh ziehe ich los von Tavanasa auf dem Polenweg Richtug Ilanz. Und irgendwie kommt mir der Rhein schon wie ein treuer Begleiter vor. Na, begleitet er nun mich oder begleite ich ihn? Ui, was für ein romantisierender Kitsch! Der Rhein fliesst neben mir und ich gehe neben dem Rhein, das ist alles.
Und plötzlich geht mir das Wortspiel durch den Kopf: Ich will die Dinge nicht erfahren, ich will sie er-gehen. Ich ergehe mich quasi in den Dingen.
Und noch etwas erlebe ich: Mit jedem Schritt wechselt der Standpunkt, die Perspektive, die Sichtweise auf die Dinge, der Blickwinkel auf die Landschaft - wörtlich und übertragen.



In Ilanz treffe ich Uolf, den Präsidenten der GiuRu, der Organisation der romanischen Jugendlichen. Er begleitet mich ein Stück des Weges und erzählt viel Interessantes über sein Dorf Sagogn, die Ruinaulta, die Ruina da Corvs, die vielen Islas und die Gesteinsformationen in der Schlucht, über die ursprünglich rätischen Ausdrücke (z.B. "pala"), über seine Pläne als Präsident und über seine Lebenspläne. Der Aufstieg am Schluss unserer gemeinsamen Wanderung hinauf nach Versam ist anstrengend, ich spüre die 31 Kilometer der heutigen Etappe in allen Knochen. Wir trinken noch ein Bier zusammen, bevor wir uns verabschieden und Uolf das Postauto besteigt zurück in sein Dorf Sagogn.





Sonntag, 19. August: Versam - Trin (Station) - Domat/Ems
Gut ausgeschlafen starte ich meine fünfte Etappe entlang der Versamerstrasse, die hoch über dem Rhein in den Fels gehauen ist und von der aus man eine atemberaubende Aussicht auf die Rheinschlucht hat.



Bei der Station Trin gelange ich wieder zu meinem Fluss hinunter.
Als Kind in Domat/Ems war für mich "Rhein" gleichbedeutend mit dem Wort Fluss. Ich wollte später in Luzern nicht verstehen, warum der Fluss dort Reuss, und nicht Rhein hiess. Der wahre Fluss heisst Rhein. Und die Orientierung geriet nochmals durcheinander, als man mir bei einem Besuch in Basel sagte, dieser Fluss sei der Rhein. Dabei war der dort doch noch viel weiter weg von Graubünden.
Nach dem Mittag treffe ich in Ems ein.










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